Ein Bundespräsident in wilder Ehe – geht das?

Knicke-Ticker, 24. Febr. 2012    Muss Joachim Gauck jetzt heiraten?

Lieber Herr Scheffer,

darf ein Bundespräsident in „wilder Ehe“ leben? Das Thema ist so aktuell und so spannend, dass auch die Presse diese Woche mehrmals bei mir anrief. Handelt es sich hier um Sittenverfall? Um fehlende Moral? So sieht es zumindest der CSU-Bundestagsabgeordneter Norbert Geis und forderte Gauck auf, seine Lebensverhältnisse schnell in Ordnung zu bringen.

Lesen Sie heute, was der „Große Knigge“ im Jahre 2012 dazu sagt!

Vom Umgang mit Patchwork-Familien

Patchwork-Familien-Konstellationen sind meistens kompliziert. Das gilt auch für den Bundespräsidenten in Spe. Lassen Sie uns deshalb erst einmal einen Blick auf die Fakten werfen:

  • Seit 1991 lebt Joachim Gauck getrennt von seiner Ehefrau Gerhild.
  • Die Ehe ist nicht geschieden.
  • Seine Lebensgefährtin ist seit 2000 die Journalistin Daniela Schadt
    ( geboren 1960 in Hanau ). 

Über Bundespräsidentenlebensgefährtinnen“ 

Eine „Bundespräsidentenlebensgefährtin“ hat es bisher nicht gegeben. Doch auf dem gesellschaftlichen Parkett gilt: Zwischen Ehefrauen und Lebensgefährtinnen werden bei uns in Deutschland keine Unterschiede gemacht. Ob jemand verheiratet ist oder nicht, ist in unserer auf Toleranz bedachten Gesellschaft nicht relevant für den Status eines Menschen.

In vielen Regionen der Welt ist dies anders, zum Beispiel in Ostasien, wo ich viele Jahre gelebt habe. Dort hat eine nicht verheiratete Partnerin den Status einer Konkubine.

Wird ein in „wilder Ehe“ lebender Bundespräsident es auf dem internationalen Parkett also schwer haben? Womöglich. Andererseits tragen wir unsere Werte wie Toleranz, Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit in die Welt.

Politiker sind der Spiegel unserer Gesellschaft

Wir hatten einen Bundeskanzler, der drei Mal geschieden war, eine tätowierte First Lady und einen Vizekanzler, der eine Lebenspartnerschaft mit einem Mann hat. Ob es uns gefällt oder nicht: Unsere Politikerinnen und Politiker sind ein Spiegel unserer Gesellschaft.

„Man kann vom Staatsoberhaupt keine Lebensform verlangen, die die Gesellschaft für sich selbst nicht als verbindlich betrachtet.“ sagt Horst Arnold, der als Protokollchef im Bundespräsidialamt von 1974 bis 2001 alle Begegnungen der Bundespräsidenten mit Menschen in Deutschland – vom privaten Bürger bis zum Staatsgast – organisiert hat. Er sagt: „Wer Joachim Gauck wählt, akzeptiert seine Form der Lebensgemeinschaft. Wer das nicht will, kann mit nein stimmen. Herr Gauck und Frau Schadt müssen nicht heiraten, damit er das Amt übernehmen kann.“

Lieber Herr Scheffer, Herr Gauck darf sich der Prozedur einer Scheidung und einer erneuten Eheschließung also entziehen. Praktische Probleme haben stattdessen die anderen. „Bundespräsidentenlebensgefährtin“ ist zum Beispiel ein Wortungetüm. Deswegen dürfen wir gespannt sein, welche Bezeichnung sich Journalistinnen und Journalisten für die First Lady in Spe einfallen lassen.