Drei Millionen Wähler suchen eine Heimat

Hamburg, 03. Jan. 2012 heutiger Bericht im Hamburger Abendblatt
von Alfred Merta  

Nach Enttäuschungen über Politiker wie Guttenberg, von Boetticher und Wulff könnte eine neue bürgerliche Partei auf Chancen hoffen.

Es gibt viele heimatlos gewordene Wähler: Euro-Gegner, Anhänger der Wehrpflicht, Befürworter einer längeren Atomkraft-Nutzung; Bürger, die eine „bürgerliche“ Politik wollen, aber über die Skandale um „bürgerliche“ Politiker wie Guttenberg, von Boetticher, Wulff entsetzt sind; Menschen, die sich als konservativ bezeichnen und sich bei der Union zunehmend fremd fühlen; Wirtschaftsliberale, die über die FDP nur noch lachen können. Wenn es eine neue Partei für all diese Bürger gäbe, „dann käme man locker über die fünf Prozent“, glaubt der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach. Meinungsforscher äußern sich ähnlich.

Legt man die knapp 43 Millionen abgegebenen gültigen Stimmen der Bundestagswahl 2009 zugrunde, dann sind 430 000 Wähler ein Prozent, das Potenzial der neuen Partei liegt also bei zwei bis drei Millionen Stimmen. Monatelang geisterten Namen für eine solche Bewegung durch die Medien: Merz, Henkel, Baring, Clement, Gauweiler, Bosbach. Selbst ins Gespräch gebracht hat sich Guttenberg. Sarrazin ist mittlerweile außen vor, angesichts der braunen Terror-Morde an Türken würde eine deutsche Anti-Islam-Partei nur Betretenheit hervorrufen.

Die Gründung einer neuen Partei ist mühselig, bis zur Bundestagswahl 2013 kaum zu schaffen. Das vermeintliche Spitzenpersonal hat nichts damit im Sinn oder will weiter innerhalb des schwarz-gelben Spektrums für die eigenen Überzeugungen kämpfen, so etwa Bosbach und der FDP-Euro-Rebell Schäffler. Doch einer hat sich jetzt gemeldet, der die drei Millionen heimatlosen Wähler abholen will: Hubert Aiwanger, Chef der Freien Wähler, die bislang in Bayern die CSU das Fürchten lehren. Aiwanger will auf die Bundesbühne – mit Euro-Skepsis, bürgerlichen Werten, Abgrenzung vom Politikstil der Altparteien.

Vor allem frühere FDP-Wähler will Aiwanger gewinnen, unterstützt wird er vom früheren BDI-Chef und Euro-Gegner Hans-Olaf Henkel. Wegen der „urbayerischen Laute“ (Henkel) in seinem Sprachstil mag Aiwanger provinziell wirken. Aber er hat die Marktlücke clever erkannt. Für seinen politischen Instinkt spricht im Nachhinein auch, dass die Freien Wähler bei der Bundespräsidentenwahl für Gauck, und nicht für Wulff stimmten.

Allerdings ist das „Projekt fünf Prozent“ mit einem doppelten Risiko behaftet. Schaffen es die Freien Wähler mit Henkel am Ende nicht in den Bundestag, sind ihre Stimmen für das bürgerliche Lager verloren. Darüber würden sich SPD und Grüne freuen, die ihrerseits vom Anknabbern durch die Piratenpartei bedroht sind. Der SPD könnte es auch helfen, wenn die Freien Wähler die Fünf-Prozent-Hürde überspringen – dann, wenn sie sich auf einen strikten Kurs gegen den Euro-Rettungsschirm festlegen. Dann könnte Merkels CDU nicht mit ihnen koalieren, eine Große Koalition rückte näher.

Die Euro-Rettung, notfalls mit deutschen Steuer-Milliarden, und der jetzt eingeleitete Prozess einer gemeinsamen europäischen Finanzpolitik – das wird auch nach der Wahl deutsche Regierungspolitik sein, weil Union, SPD und Grüne dafür stehen. In den Meinungsumfragen sind viele Deutsche dagegen, doch wer von ihnen würde den Richtungswechsel wirklich herbeiführen wollen, mit all seinen Konsequenzen für Deutschlands Wirtschaft und Deutschlands Rolle in Europa? Das Ergebnis des FDP-Mitgliederentscheids deutet eher darauf hin, dass die Euro-Ablehnung in Talkshows und Umfragen das eine ist, die konkrete Wahl-Stimme aber etwas ganz anderes.

Dank Aiwangers Freien Wählern bekommen die drei Millionen heimatlosen bürgerlichen Wähler nun jedenfalls ein Angebot. Dessen Prüfung kann allerdings auch dazu führen, dass sie sich doch wieder für CDU/CSU oder FDP entscheiden. Die Attraktivität der Union am Wahltag hängt davon ab, wie viele Wähler Angela Merkel als Kanzlerin behalten wollen. Die FDP hätte im Abstiegskampf, wenn es nur noch um die heimatlosen Wähler und die Fünf-Prozent-Marke geht, ebenfalls ein Zugpferd: Rainer Brüderle. Der könnte Aiwanger und Henkel Paroli bieten, aber dafür müsste die Partei ihn an die Stelle des ungeeigneten Vorsitzenden Philipp Rösler setzen. Gewagt, aber es könnte das Überleben sichern. Sonst freut sich Aiwanger.